Klassenkörper. Zur Körpergeschichte sozialer Ungleichheit, 1770er bis 1870er Jahre

Klassenkörper. Zur Körpergeschichte sozialer Ungleichheit, 1770er bis 1870er Jahre

Organizer(s)
Laura-Elena Keck, Universität Leipzig; Nina Mackert, Universität Leipzig / FernUniversität Hagen; Lisa Weber, FernUniversität Hagen
Location
Berlin
Country
Germany
Took place
In Attendance
From - Until
25.05.2023 - 26.05.2023
By
Susann Winsel, Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig

„Klasse“, im Kontext von sozialer Ungleichheit und Klassismus, kehrt zunehmend zurück in den Fokus der historischen Forschung. Die Differenzkategorie weist aufgrund ihrer eigenen (Begriffs-)Historie, aber auch für die methodische Einbeziehung in Geschichtsschreibungen, auf einen Aktualisierungs- und empirischen Forschungsbedarf hin. Diesem Desiderat, das insbesondere für die sogenannte Sattelzeit adressiert werden kann, widmete sich die Tagung.

Mit dem foucaultschen Postulat, Körper zu historisieren, eröffnete NINA MACKERT (Leipzig / Hagen) die Veranstaltung. Ziel sei es, empirisch-historische Befunde zu Klassenkörpern während der Sattelzeit zu verdichten. Der moderne, westliche Körper sei in diesem Zeitraum als ein formbarer und regierbarer Körper in Erscheinung getreten, und die Verantwortung des Individuums, für den eigenen Körper zu sorgen, in den Mittelpunkt des Politischen gerückt. Daher seien Körper zum Marker von Differenzen geworden. Nach einer frühen Beschäftigung sozialgeschichtlicher Arbeiten mit „armen“ Körpern habe der historiographische Fokus in den letzten beiden Dekaden auf den Differenzkategorien gender, race, sexuality und zunehmend dis/ability gelegen. Dabei seien Verschränkungen mit der Kategorie „Klasse“ einbezogen, aber selten privilegiert worden. Mackert argumentierte, dass die meisten körperhistorischen Studien überdies auf das Ende des 19. Jahrhunderts gerichtet seien, obgleich gerade im Übergang zur Moderne die Herausbildung körperlicher Normen zu beobachten sei, die für das spätere 19. und 20. Jahrhundert wichtig werden sollten. Deshalb verfolge die Tagung das Ziel, mit einer intersektionalen Perspektive auf Klassenkörper in der „körperhistorischen Sattelzeit“ zu schauen: eine Zeit, in der die aufkommende soziale Frage nicht selten über Politiken und Praktiken, die den Körper betreffen, ausgehandelt wurde.

NADJA DURBACH (Salt Lake City) gelang es in ihrer Keynote, bekannte Körpermetaphern mit den Regierungspraktiken im britischen Empire in Großbritannien und in inner- (Irland) sowie außereuropäischen Kolonien (Indien) eindrücklich zu verbinden. Durbach legte dar, dass die Metaphern nicht von den konkreten Regierungspraktiken zu trennen waren. Wie der fragmentierte Gesellschaftskörper wurden auch Menschen als einzelne, funktionale Körperteile gedacht. Die Verbindungen zeigte sie an vielfältigen Beispielen auf. So war die „Gebärmutter“ mit der Funktion verbunden, zukünftige Arbeiter:innen („future hands“) zu produzieren. Der individuelle Körper der Arbeiter:innen stand dadurch im Fokus, wie auch das staatliche Interesse, die arbeitende Klasse durch Reproduktion zu erhalten. Über die Analyse von Regierungsdokumenten machte Durbach auch deutlich, wie aus den „helfenden Händen“ von Kinderarbeit im Kontext der Kolonialherrschaft die „unproduktiven Hände“ der Kolonisierten wurden, die wiederum in Folge von Ernährungskrisen als „hungrige Münder der Hilflosen“ galten. Um Entscheidungen über die Versorgungspolitiken in den 1870er-Jahren zu treffen, erlaubte das britische Empire, dass an Gefängnisinsassen der indischen Kolonie wissenschaftliche Verfahren durchgeführt wurden. Ziel war es herauszufinden, wie hoch der Nahrungsbedarf bei ihnen sein musste, damit sie noch zu „harter Arbeit“ in der Lage waren. Rassistische und vergeschlechtliche Dimensionen materialisierten sich so bei der Frage nach dem Ernährungsbedarf. Die anschließende Diskussion widmete sich vor allem der Frage nach dem Wandel von Arbeiter:innenkörpern. Unter anderem wurde die Analogie zwischen „working class bodies“ und „animal bodies“ thematisiert, aber auch die Frage, inwiefern politische Ziele die Darstellungen von Arbeiter:innenkörpern veränderten (z.B. vom „romantisierten“ zum „monströsen“ Arbeiterkörper).

PASCAL EITLER (Hannover) lud mit seinem Vortrag dazu ein, kritisch über Vorannahmen und Perspektiven auf den eigenen historischen Gegenstand nachzudenken. Statt eines von vornherein intersektional angelegten Forschungsdesigns plädierte er im Rückgriff auf Pierre Bourdieu dafür, die „feinen Unterschiede“ wieder mehr in den Vordergrund der Quellenarbeit zu rücken. Nicht Materialität, sondern die Materialisierung am Körper (hexis) solle wieder produktiv gemacht werden, denn Klasse gelte als Möglichkeit für eine bestimmte Lebensführung. Zentrales Anliegen des Beitrages war es deshalb, das „Vetorecht der Quellen“ (Reinhart Koselleck) mit in die Debatte zu nehmen. In der Diskussion wurde vorgebracht, dass es nicht darum gehen dürfe, die intersektionale Perspektive, als Errungenschaft des Klassenkampfs Schwarzer Frauen, zu verwerfen, sondern dass die Kritik vor allem auf eine Prüfung aktueller und zukünftiger Forschungs(förderungs)politiken zielte.1 Nicht jede Quelle oder Forschungsfrage eigne sich, auf mehrere Differenzkategorien hin befragt zu werden. So lautete Eitlers Fazit: „Unterschiedliche Fragestellungen brauchen unterschiedliches Werkzeug!“

Es folgten drei Vorträge zu neuen Forschungsprojekten. VERONIKA SETTELE (Bremen) erläuterte erste Erkenntnisse, die sie im Rahmen ihrer Auseinandersetzung mit Klasse und Körper im Spannungsfeld von körperlicher Autonomie und Geburtenkontrolle zwischen 1840 und 1900 gefunden hatte. Es waren nach Settele vor allem Akteurinnen der radikal-feministischen und der US-amerikanischen sex radicals / free lover-Bewegungen, die Heirat und Ehe als sich überholendes Phänomen diskutierten. Fast zur gleichen Zeit war die Geburtenrate zurückgegangen, was darauf hindeutete, dass mehr Paare ungewollte Schwangerschaften zu vermeiden wussten. Im Zuge dieser Entwicklungen waren auch biopolitische Maßnahmen zu sehen. Ein Beispiel war die Aufnahme des Paragrafen 218 im Strafgesetzbuch des Deutschen Kaiserreichs, der den Schwangerschaftsabbruch normierte. Eine für Settele jedoch offenstehende Frage blieb, wer vor allem von den Konsequenzen des Paragraphs auf welche Weise betroffen gewesen war.

MIRJAM JANETT (Bern) blickte auf einen anderen Aspekt der Reproduktionsdebatten: verschiedene Konzeptionen von Mutterschaft in der Geschichte des anarchistischen Feminismus. Im 19. Jahrhundert begannen dessen Vertreterinnen die körperlichen Realitäten von gebärenden Personen zu politisieren. Janett zeigte auf, wie Mutterschaft auf diesem Weg sowohl als verbindendes Element zwischen Frauen und darüber hinaus als Arbeit konzipiert wurde. Der Körper war für die Sozialistinnen eine Art Projektionsfläche. Janett fand im Werk von André Leo die Schwangerschaft als Insignie für physische Stärke. Nelly Roussel hingegen habe das eigene Recht am Körper stärken wollen und vertrat Positionen der voluntary motherhood-Bewegung – also der freien Entscheidung über das Gebären eines Kindes und dessen Fürsorge. Die gewählten Beispiele repräsentierten vor allem einen Zugriff auf den Körper aus einer intellektuellen, feministischen Bewegungsperspektive.

MAREEN HEYING (Düsseldorf) beschäftigte sich mit der sozialen Beurteilung von Trinker:innen als einer Frage der Klassenzugehörigkeit, und legte dabei einen Fokus auf das Rheinland und Westfalen im 19. Jahrhundert. Verankert in den „Drinking Studies“, argumentierte sie, dass „soziale Ordnung durch Alkoholregulierung“ hergestellt und der „betrunkene Körper zum zu disziplinierenden Körper“ wurde. Heying beschrieb, wie diese soziale Ordnung von unterschiedlichen Faktoren wie Zeit, Menge, Ort und Geschlecht geprägt war: Ärmere Schichten, Arbeiter, tranken im öffentliche Raum (Kneipen), während der bürgerliche Mann sich ins Private zurückzog. Etwas über die Trinkgewohnheiten von Arbeiterinnen und bürgerlichen Frauen herauszufinden, gestalte sich im Forschungsprozess bisher schwierig. Heying verwies darauf, dass durchaus bekannt gewesen ist, dass beide Gruppen Alkohol tranken, es fehle aber noch an aussagekräftigem Quellenmaterial.

In der zweiten Keynote des Workshops warf FELIX KRÄMER (Erfurt) ausgehend von Cedric Robinsons „Black Marxism“ (1983) einen genealogischen Blick auf die Bewegung vom slave capitalism zum race capitalism. Im Fokus des Vortrags standen US-amerikanische Körperpolitiken des 18. Jahrhunderts. Krämer stellte die Bedeutung und Bedingungen von Afroamerikaner:innen im Zugriff auf den eigenen Körper und somit auch den eigenen Freiheitsstatus heraus. Zunächst betrachtete er die Lebensgeschichte von Venture Smith (1798: „A Narrative of The Life and Adventures of Venture, a Native of Africa“). Der unfreie Sklave Smith wurde zu Lebzeiten dreimal verkauft, bis er sich selbst und seine Angehörigen im Alter von 36 Jahren freikaufen konnte. Smith habe seine eigene körperliche Größe und Stärke als grundlegende Voraussetzung betrachtet, um überhaupt in der Lage zu sein, sich mit dem Einsatz seiner Arbeitskraft freizukaufen. Im Anschluss betrachtete Krämer einzelne Gerichtsurteile zu vormaligen Sklavinnen, um Erkenntnisse über die Schicksale von Frauenkörpern zu formulieren. Sie waren wie die Männer von Verschleppung, Gewalt und Zwangsarbeit betroffen und darüber hinaus von Vergewaltigung bedroht. Die Weitergabe ihrer Unfreiheit qua Geburt an das Kind war juristisch umkämpft (Bsp. 1656, der Gerichtsfall von Elizabeth Key Grinstead). In Virginia führte dies zur gesetzlichen Verankerung des Status von Kindern Schwarzer Mütter als unfrei und versklavt. Die anschließende Diskussion brachte vor allem noch einmal die Quintessenz von slave capitalism und race capitalism auf den Punkt: Waren die Sklav:innen auch durch Selbstermächtigung, Gerichtsurteile oder die Revolution formell frei, so waren sie dennoch faktisch gezwungen, sich zu verschulden, da sie aufgrund ihres vorangegangenen Status als Sklav:innen besitzlos waren. Eine Verschränkung von Klasse und dis/ability trat hier deutlich hervor, denn die herrschenden Gesellschaftsgruppen betrachteten ehemalige Sklav:innen als unfähig, ihr eigenes Geld zu verwalten, und produzierten damit weitere soziale Ungleichheiten.

ANNE PEITER (Saint-Denis) stellte ihre Forschung zur Darstellung von Lastenträger:innen in kolonialen Medien dar. Damit schaute sie auf eine Berufsgruppe, der sowohl in Europa als auch in den Kolonien zugeschrieben wurde, „nichts als Körper zu sein“. Tragen war ein sozialer Marker: Während Mächtige vor allem symbolische Lasten trugen, waren es die Träger:innen, die sowohl die materielle Last als auch die soziale Bewertung und die damit einhergehenden Folgen ertragen mussten. Obwohl letztere für die Reisen durch Afrika unabdingbar waren, erhielten sie dafür keine Anerkennung, sondern wurden in den gewaltvollen Kolonialisierungsprozessen körperlich und medial eingehegt, wie Peiter an den Inszenierungen in Lithographien, Fotografien und Literatur aufzeigte.

RAPHAEL RÖSSEL (Hagen) widmete sich der Frage von Klasse und Körper in seinem neuen Forschungsprojekt zu Initiationsriten am Beispiel von weißen und Schwarzen Körpern in US-amerikanischen Militärakademien des 19. Jahrhunderts. Die Praxis der Schikane (hazing) war ein stark und explizit auf den Körper bezogenes Phänomen, das beispielsweise in Form von Rauschtrinken, psychologischem Terror und Gewaltanwendung gegenüber jüngeren oder Schwarzen Personen Anwendung fand und als ein rite de passage galt. Rössel beschrieb, wie diese Praxis den Klassenstatus innerhalb der Eliten gefährden konnte, da das Spiel mit Gewalt und dem Leben anderer auf (mediales) gesellschaftliches Unverständnis stoß. Im Falle von Schwarzen Kadetten konnte der Ausschluss von diesem Übergangsritus indes den Status verwehren, als Gleicher unter Gleichen zu gelten. Schikane als Initiationsritus war zu Beginn ein Elitenphänomen, breitete sich jedoch, wie Rössel anmerkte, in der Gesellschaft zunehmend auf weitere Schichten aus.

Einmal mehr präsentierte sich Körpergeschichte an diesen beiden Tagen als eine erkenntnisreiche Differenzgeschichte. Die Vorträge zeigten jedoch auch, dass über Klassenkörper zu sprechen weiterhin eine Herausforderung darstellt. So war es als Zuhörerin nicht immer ersichtlich, ob es wirklich die „Klasse“ war, die die soziale Ungleichheiten hervorbrachte, oder ob nicht doch andere Differenzkategorien des Körpers nach wie vor dominant in den Forschungsblick genommen wurden. Nicht zuletzt liegt das auch an der immer wieder angedeuteten Problematik, dass die Kategorie „Klasse“ mit ihren impliziten Verwandtschaften zum marxistischen Klassenbegriff, zum englischen class als Milieu- und Schichtzuschreibung sowie zu sozialwissenschaftlichen Zugängen über bourdieusche „Kapitalsorten“ jeweils eigene Voraussetzungen mit sich bringt, wenn es um die Erforschung sozialer Ungleichheit geht. Die Beiträge und Diskussionen waren daher wichtig, um aufzuzeigen, dass „Klasse“ kein Sammelbegriff ist, um über arm/reich zu sprechen, sondern sich meist – auch in der Sattelzeit – mit anderen Differenzkategorien überschnitt oder mit ihnen verflochten war. Das intersektionale Bewusstsein gilt es für die weitere empirische Erforschung von Klassenkörpern im Blick zu behalten. Eine zentrale Erkenntnis liegt auch darin, dass die zukünftige historische Forschung ausgehend vom Material um eine Schärfung des Verständnisses dessen bemüht sein muss, wie und wann von „Klasse“ gesprochen werden kann, um den komplexen Zusammenhängen gerecht zu werden.

Konferenzübersicht:

Nina Mackert (Leipzig / Hagen): Einführung in das Tagungsthema

Nadja Durbach (Salt Lake City): The Working-Class Body and the Rise of the Modern State in 19th Century Britain

Pascal Eitler (Hannover): Vers le concret – Körper und Klasse in materialistischer Perspektive

Veronika Settele (Bremen): Freedom, Future, Nation: Sexuality between Body Autonomy and Population Policy, Germany and US, 1840–1900

Mirjam Janett (Bern): “Politics of Female Pain”. Body and Class in 19th Century Socialist Feminism

Mareen Heying (Düsseldorf): Alkohol und Geschlecht. Zur Konstruktion des proletarischen Trinkers im 19. Jahrhundert

Felix Krämer (Erfurt): A Class of its Own. Venture Smith and the Possessive Individualism of Racial Capitalism

Anne Peiter (Saint-Denis): Die Last auf ihren Schultern. Zur Körpergeschichte afrikanischer LastenträgerInnen und ihrer Darstellung in der deutschen und französischen Kolonialliteratur, -photographie und -lithographie bis 1870

Raphael Rossel (Hagen): Un/touchable Bodies. Hazing of Black and White Cadets at 19th Century US Military Academies

Anmerkung:
1 Aktuelles Resümee zur Intersektionalitätsperspektive in der historischen Forschung: Isabelle Deflers / Maria Muschalek, Verschränkte Ungleichheiten in historischer Perspektive, in: FZG – Freiburger Zeitschrift für GeschlechterStudien (2022), S. 5–16, hier S. 7.

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